Univ.-Prof.in Dr.in Ruth Wodak, selbst ehemalige Theodor Körner Preisträgerin, hielt die Festrede. © Christian Fischer

FESTREDE ANLÄSSLICH DER VERLEIHUNG DER THEODOR KÖRNER FÖRDERPREISE
AM 10. MAI 2019

Em. Distinguished Professor Dr Dr h.c. Ruth Wodak, FAcSS
Lancaster University/ Universität Wien
Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaft des Menschen (9/2018-6/2019)

Sehr geehrte Festgäste,
liebe Theodor Körner-Preisträger und Preisträgerinnen! 

Vielen Dank für diese sehr ehrenvolle Einladung.  In der kurzen Zeit, die ich zu Verfügung habe, will ich zunächst – als ehemalige Körner Preisträgerin – erzählen, was dieser Preis für mich bedeutet hat und inwiefern er mir den Weg in die Wissenschaft eröffnet bzw. erleichtert hat. Anschließend widme ich mich ganz allgemein einigen Herausforderungen, mit denen WissenschaftlerInnen heutzutage konfrontiert sind, vor allem den signifikanten Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte – denn es ist lange her, seitdem ich den Theodor Körner Preis zugesprochen bekommen habe, nämlich ganze 45 Jahre! In diesen 45 Jahren hat sich nicht nur die österreichische Wissenschaft sehr verändert; es hat sich unsere Welt und die Wahrnehmung eben dieser Welt verändert. Solche Veränderungen wirken sich natürlich notwendigerweise auch auf die Herausforderungen an die und Möglichkeiten in der Wissenschaft aus.

Zunächst ein Rückblick auf das Jahr 1974, auf die sogenannte „gute alte Zeit“, als ich in der Endphase meiner Dissertation den Theodor Körner Preis erhielt. Ich erhielt ihn für meine Forschung zum „Sprachverhalten von Angeklagten bei Gericht“, für eine interdisziplinäre, soziolinguistische Studie, die quantitative mit qualitativen Methoden verbinden konnte und für die ich – erstmalig für Österreich – ethnographische Feldforschung bei Gericht unternahm. Das heißt, ich bekam mit Hilfe der KollegInnen des Boltzmann Instituts für Kriminalsoziologie die Erlaubnis, Gerichtsverhandlungen zu Verkehrsunfällen am Straflandesgericht Wien auf Tonband aufzunehmen.

Um zu verstehen, was eine solche ethnographische, also teilnehmend-beobachtende Studie damals bedeutet hat, muss ich ein wenig ausholen: Sie sind ja (fast) alle wesentlich jünger als ich und können sich wahrscheinlich weder eine Zeit ohne Computer, on-line Archive und tragbare Tonbandgeräte vorstellen, noch eine Zeit ohne klare Datenschutzregelungen, ohne explizit festgeschriebene Konventionen für Feldforschung in Institutionen und ohne geregelte Dissertationsstudiengänge. Ich schrieb meine Dissertation damals mit der Füllfeder (mit schwarzer Tinte), und durfte in den Weihnachtsferien 1973/74 das Manuskript auf der einzigen damals vorhandenen elektrischen Schreibmaschine im Institut für Sprachwissenschaft abtippen.

Auch das Fach „Soziolinguistik“ gab es an der Universität Wien noch nicht. In der Sprachwissenschaft fand damals gerade ein aufsehenerregender Paradigmenwechsel statt: einerseits vom Behaviorismus und Strukturalismus zur Chomsky‘schen Generativen Transformationsgrammatik; andrerseits von einem Fokus auf Grammatik und Grammatiktheorie zur Analyse von Sprachhandlungen und Sprachverhalten. Letztere, beeinflusst von britischen, deutschen und amerikanischen Gelehrten, wie Basil Bernstein, Ulrich Oevermann und Bill Labov und aufbauend auf der analytischen Philosophie Ludwig Wittgensteins und der kritischen Theorie von Jürgen Habermas, führte geradewegs zur Auseinandersetzung mit der Interdependenz von sprachlichen mit außersprachlichen, gesellschaftlichen Faktoren.

Und derart landete ich bei der Fragestellung, ob denn die soziale Schicht und die damit zusammenhängende kommunikative Kompetenz einen Einfluss auf die Interaktion zwischen Richter und Angeklagten zeitigen könnte: wurden also Angehörige aus eher gebildeten Milieus anders und besser behandelt als Angehörige aus bildungsfernen Schichten, bei einem ähnlichen Vergehen? Da das Fach Soziolinguistik nicht vertreten war, wandte ich mich an das schon erwähnte Boltzmann Institut für Kriminalsoziologie. Dort fand ich massive disziplin-übergreifende Unterstützung und großes wissenschaftliches wie auch politisches Interesse für mein Vorhaben. Die Krönung dessen war natürlich der Theodor-Körner Preis, der für mich (und viele Außenstehende) eine sichtbare Anerkennung kritischer interdisziplinärer Forschung bedeutete – und damit ein Ansporn dafür war, weiterhin einen risikoreichen spannenden Weg innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften zu betreten.

Warum erzähle ich Ihnen, liebe Festgäste, so viele Einzelheiten über diese längst vergangene Zeit, über wissenschaftliches Arbeiten von „vorgestern“? Über mein ganz persönliches Dissertationsvorhaben? Weil es für eine spezifische Art von Forschung steht, die heutzutage leider selten bzw. kaum mehr möglich ist. Damals, in den 1970erjahren, wurde gerade das UOG von Ministerin Herta Firnberg implementiert; die Universitäten expandierten und im Zuge der 1968er Bewegung waren wir alle an neuem Wissen, an neuen Fragen und Problemen interessiert, an neuen Lebensstilen und Geschlechterrollen. Es herrschte eine unbändige Neugier – wir durften damals quer über alle Fächer studieren, lasen bislang Unzugängliches in Arbeitskreisen und unterstützten einander beim Studium.

Wir hatten – und das will ich betonen – Zeit! Wir konnten uns Zeit zum Denken, Diskutieren, zur Reflexion nehmen – trotz einer noch weiterhin recht patriarchalischen Universität. Allerdings verlangte das Studium damals viel Eigeninitiative, man musste ohne genaues Curriculum auskommen, sich oft durch einen bürokratischen Jungle durchschlagen. Ohne gegenseitige Unterstützung wäre es vielen nicht gelungen, das Studium abzuschließen.

Damals hatte ich das große Privileg, den späteren Präsidenten der Arbeiterkammer, Herbert Tumpel kennenzulernen. Herbert nahm ebenfalls an vielen interdisziplinären Veranstaltungen teil, und unsere Freundeskreise überschnitten sich. Aus dieser – oft auch sehr kontroversiellen Zeit (denn es gab natürlich während der Kreisky’schen Modernisierungperiode Aspekte, mit denen viele nicht einverstanden waren) – nahmen wir alle viele Anregungen für unsere weitere Arbeit und unser Leben mit, vor allem ein Bekenntnis zu demokratischem, solidarischem und partizipativem Denken und Handeln. Genau diese Haltung prägte Leben und Arbeit von Herbert Tumpel. Wir alle sind ihm dafür sehr dankbar.

Heute kann ich mir natürlich kaum mehr vorstellen, ein 300-seitiges Manuskript mit der Hand zu schreiben; eine derartige risiko-reiche Forschung, ohne Mainstream-Vorbilder, ohne Journals mit Impact-zahlen, vorgegebene Module, Benchmarks und festgeschriebene Ziele ist kaum mehr vorstellbar; auf jeden Fall würde sie bei den diversen kommissionellen Verfahren nicht mehr zugelassen.

Wir bewegen uns heute zwar in einem wesentlich geschützteren Bereich, mit expliziten Vorgaben und Regeln; das macht vieles sicherlich einfacher – aber gleichzeitig wesentlich weniger innovativ. Obwohl bei jedem Forschungsantrag Risiko und Innovation als relevante Ingredienzien gefordert werden, werden diese – mit ganz wenigen Ausnahmen – durch die institutionellen Bedingungen vornweg verhindert. Außerdem haben sich die Karrierewege stark verändert: hatten wir damals noch klar vorgezeichnete Berufslaufbahnen, so bewegen sich heute leider viele ausgezeichnete junge WissenschaftlerInnen im Prekariat. Und sie müssen wegen der so genannten Kettenvertragsregelung ihre Uni-Institute nach maximal sechs Jahren verlassen.

„Leistung soll sich lohnen“, hören wir immer wieder von der Politik; dennoch verlassen viele ausgezeichnete junge KollegInnen die Wissenschaft (und häufig auch Österreich), da es hier zu wenig Perspektiven gibt. Gerade deshalb sind Anerkennungen wie der Theodor-Körner Preis so enorm wichtig, da sie jungen hervorragenden ForscherInnen – wie Ihnen allen – hoffentlich wesentliche Möglichkeiten eröffnen.

Seit 1974 haben sich die Zeiten nicht nur in der Wissenschaft signifikant verändert: In diesen 45 Jahren durfte ich – unter anderem – 7 amerikanische Präsidenten erleben, das Ende des Kalten Krieges 1989, das Ende der Apartheid in Südafrika 1994, den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995,  den bedenklichen Siegeszug des Neoliberalismus seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan seit den 1980er-jahren, 9/11 und den Beginn des „Kriegs“ gegen den Terror 2001, die EU-Osterweiterung seit 2004, die Finanzkrise 2008 und schließlich die Flüchtlingsbewegung 2015. Außerdem innerhalb der EU eine außerordentlich lange Zeit des Friedens, abgesehen von dem schrecklichen Krieg im benachbarten ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-jahren. Globalisierung, Digitalisierung und social media ermöglichen völlig neue Kommunikationsformen mit sowohl positiven wie negativen Auswirkungen. Der Bericht der UNO (für nachhaltige Entwicklung) 2017 bestätigt, dass Armut und Hunger weltweit zurückgehen – allerdings zu langsam.

Dennoch: es steigen die Ängste vor Verlust und Veränderung, apokalyptische Krisen werden von Rechtspopulisten als Bedrohungsszenarien an die Wand gemalt, eine anachronistische Sehnsucht nach homogenen Nationalstaaten – die so niemals existiert haben, wie der Historiker Timothy Snyder in einem Interview in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30. Jänner 2019 plausibel erklärt – wird propagiert; damit verlieren viele Selbstverständlichkeiten des demokratischen antifaschistischen Nachkriegskonsens in unserer Republik und in Europa, der auf den universalen Menschenrechten basiert, zunehmend an Bedeutung.

Zudem leben wir heute – wie wir häufig vernehmen - in einer Wissensgesellschaft; allerdings scheinen in dieser unseren Gesellschaft Wissen, Forschung, und Fakten immer weniger Geltung zu besitzen. Expertenmeinungen sind zwar durchaus gefragt, aber nur solche, scheint es, die die jeweils hegemoniale Politik bestätigen und legitimieren. Andere Theorien und Ansätze, andere Ergebnisse und Fakten werden schlichtweg als „Meinungen“ verunglimpft, mit denen man übereinstimmen kann oder eben nicht: „we can agree to disagree“ ist an die Stelle von Beweis und Gegenbeweis getreten, an die Stelle von empirischen Fakten, die  - immer im Kontext des vorhandenen Wissens – wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen oder widerlegen. Natürlich ist eine solche politische Instrumentalisierung von Expertenmeinungen nicht neu – schon Hannah Arendt hat in ihrem berühmten Aufsatz von 1969 „Zur Lüge und Wahrheit in der Politik“ auf die politische Verführbarkeit von Experten explizit hingewiesen. Drei kurze Beispiele aus der heutigen Zeit mögen im Folgenden zur Illustration dienen:

Am 3. Juni 2016 und nochmals, am 22. Juni 2016, einen Tag vor dem Brexit-Referendum, meinte der damalige britische Justizminister und ehemalige Unterrichtsminister Michael Gove, während der extrem polarisierten Diskussion um Brexit: „People in this country have had enough of experts“. Man solle also den eigenen Gefühlen folgen und nicht fundierten Expertengutachten – dies angesichts der wohl weittragendsten Entscheidung, die seit 1945 in Großbritannien gefällt werden sollte. Inzwischen wissen wir, in welches Chaos die vielfach unfundierte und sogar manipulierte Entscheidungsfindung geführt hat.

Am 4. Jänner 2019 veröffentlichte Jeremy Shulman im Bulletin of Atomic Scientists „The 2018 list of the worst in anti-science.“ Abgesehen von vielen amerikanischen PolitikerInnen, die sich etwa gegen Impfungen aussprechen, wird Donald Trump hervorgehoben, als jener mächtige Politiker, der am häufigsten empirische Fakten einfach vom Tisch wischt; darüber hinaus alle Studien, die einen menschgemachten Klimawandel eindeutig nachweisen. Ich zitiere aus einem berühmt-berüchtigten Tweet vom 6. November 2012, der 2017 global verbreitet wurde () und eine haarsträubende Verschwörungstheorie aufstellt:


 

Mein drittes Beispiel betrifft das neue Gesetz zur Schulorganisationsänderung und die Novellierung des Schulunterrichtsgesetzes vom April 2018, als ca. 55 Stellungnahmen/Gutachten, unter anderem von ExpertInnen der Sprachwissenschaft und Sprachunterrichtsforschung, im Parlament eintrafen, die empirisch fundierte Kritik an den vorgesehenen Deutschförderklassen und Deutschförderkursen auflisteten. Ich zitiere hier kurz aus der Stellungnahme des Netzwerks Sprachenrechte, stellvertretend für die gesamte österreichische Sprachwissenschaft:

„Der vorliegende Entwurf ignoriert in mehrfacher Weise wissenschaftliche Befunde aus Spracherwerbsforschung, Sprachdidaktik und Pädagogik zum Zweitspracherwerb sowie die Erfahrungen aus der schulischen Praxis. Die weitgehende Segregation von außerordentlichen SchülerInnen erschwert nicht nur deren Integration in den Klassenverband, sondern schließt sie auch von der Teilnahme am Fachunterricht aus und erlaubt einen Übertritt in die altersgemäße Regelklasse nur in Ausnahmefällen. Somit sind Schullaufbahnverzögerungen vorprogrammiert, die bei einer integrativen Beschulung vermeidbar wären. (….) Das Vorhandensein „ausreichender Deutschkenntnisse“ als einziges Schulreifekriterium verweigert den Kindern eine ihrem Alter und ihrer Entwicklung entsprechende schulische Bildung. (…) Der vorliegende Entwurf weist nach unserer auf wissenschaftlichen Einsichten beruhenden Einschätzung zahlreiche Merkmale auf, die sich im Ergebnis integrationsbehindernd auswirken werden und den betroffenen Kindern Bildungsgerechtigkeit vorenthalten.“ ()

Viele weiteren wichtigen Befunde wären hier noch zu nennen. Seit 2015 sind die Anforderungen an Deutschkenntnisse von Zugewanderten und Flüchtlingen so hoch, dass Illiterate und wenig literalisierte Menschen (auch sogenannte „autochthone Österreicher“) de facto ausgeschlossen werden. Gerade hier lässt sich eine Wechselwirkung zwischen zunehmend (rechts)populistischen Positionen und gesetzlich-institutionellen Regelungen deutlich aufzeigen. In jedem Fall werden sämtliche internationale und nationale wissenschaftliche Studien zum Thema – in einem multilingualen (!) Europa - nicht zu Kenntnis genommen.

WissenschaftlerInnen sind also mehr denn je in einem schwierigen Dilemma verfangen: einerseits war der Wettbewerb innerhalb der Wissenschaft noch nie so stark und global; es standen noch nie so viele Forschungsmittel und Vernetzungsmöglichkeiten im europäischen Forschungsraum zu Verfügung wie jetzt; andrerseits werden unsere Ergebnisse – zumindest von manchen Mächtigen – abqualifiziert. WissenschaftlerInnen müssen also weiterhin um Anerkennung kämpfen, um Zeit zum Nachdenken, und um Raum und Geld für risikoreiche, innovative Forschung. Gleichzeitig ist es sicherlich allen bewusst, dass – je komplexer sich unsere globalisierte Welt gestaltet –, desto mehr sind Antworten aus der Wissenschaft gefragt, wobei man vergeblich auf simple Lösungen oder Rezepte warten wird. Das ist allerdings nicht unsere Aufgabe – Komplexität muss dekonstruiert und differenziert werden, es geht um Verstehen und Erklären; um reflektierte Entschleunigung und Distanz.

Der Theodor-Körner Preis ist daher vor allem deshalb so wichtig, weil er in diesem Prozess Unterstützung und Anerkennung bietet und einen Gegendiskurs zur – wie ich diese, die Fakten ablehnende, Haltung bezeichne - „Arroganz von Ignoranz“ erlaubt. Grundlagen- und angewandte Forschung sind wichtiger denn ja, eine Wissenschaft, die scheinbar Naturgegebenes hinterfragt und beharrlich und hörbar kritische Fragen stellt.

Sehr geehrte, liebe PreisträgerInnen: Halten Sie sich fit; Rückgrat und Standfestigkeit, ja Konsequenz, sind heute auch für die Wissenschaft wichtige Attribute. Ich wünsche Ihnen allen vom Herzen viel Glück und Erfolg. Genießen Sie die Anerkennung, seien Sie berechtigterweise stolz auf sich und Ihre tollen Leistungen! Alles, alles Gute im Weiteren! Bleiben Sie weiterhin so erfolgreich!